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Über die ersten Schritte ins neue Leben und Opfer-Bürokratie

Es war sehr lange still hier. In den letzten Wochen habe ich meine letzten Arbeitstage verbracht. An meinem letzten Tag habe ich ein Arbeitsergebnis von den letzten Monaten präsentiert. Nur sehr wenige Menschen im Raum wussten, dass genau dies, das Letzte sein würde, was ich für längere Zeit arbeitsbezogen tun werde. Auch für mich war das irgendwie komisch. Ich habe es präsentiert, als wenn ich nach dem Wochenende, oder nach einem Urlaub genau da und genau damit weitermachen würde und für einen Teil von mir ist es auch immer noch nicht real. Tatsächlich habe ich parallel aber schon Dinge für mein neues Leben, mit Therapie im Mittelpunkt, versucht zu organisieren.

 

 

 

Ich weiß, dass ich mich um ein ganz wichtiges Thema kümmern muss. Wenn ich aufhöre zu arbeiten, weil es einfach nicht mehr geht, weil die Kraft und Konzentration dafür einfach fehlen, dann muss ich dennoch sehen, wie ich mich und meine Familie mitfinanziere. Krankengelt bekomme ich noch ca. neun Monate. Und dann?

 

Ich habe mich schon vor einem Jahr über alles informiert, aber ich hatte einfach das Gefühl, ich kann diesen Weg nicht gehen, in die Mühlen der Behörden. Zu viele schreckliche Geschichten hört man von denen, die diesen Weg gehen mussten. Das war ein Grund, warum ich nicht wahrhaben wollte, dass ich nicht mehr arbeitsfähig sein werde, für einen weiten Teil der Therapie und des Viele-Seins. Ich wollte mich nicht als so verletzlich und abhängig sehen, von Fonds, Opferentschädingungsgesetz (OEG) und Erwerbsunfähigkeitsrente. Das bin einfach nicht ich, sagt ein Teil von mir und wehrt sich mit Händen und Füßen. Ohne das eigene, regulierende Eingreifen, würde er weiter dafür sorgen, dass auch das letzte bisschen Energie dafür aufgewandt wird, dieses Bild des "Könnens" aufrechtzuerhalten. So durfte er noch einmal Arbeitsleben, kollegiale Gesellschaft genießen und "glänzen". Es war ein ganz bewusstes letztes Mal und ein Abschied ins unbekannte.

 

Aber ja, dass bin ich nun auch. Soweit beschädigt, dass Arbeit eben nicht merh geht. Dass ich sowohl einen Behindertenantrag gestellt habe, als auch einen Antrag auf Leitungen im Rahme des Opferentschädigungsgesetzes. Es geht hier um eine Summe von 300 vielleicht auch 500 Euro im Monat. Das hängt ganz davon ab, wie der Grad der Behinderung festgelegt wird. Aber es zählt letztendlich jede Summe. Oder aber der Kampf ist ganz umsonst. Auch das kann passieren.

 

Den Antrag zu stellen ist an sich nicht schwer. Es sind ein paar Seiten eines Formulars. Ja, es fragt auch, was passiert ist und ja man muss klar benennen, dass man Opfer wurde, aber das ging an sich alles noch ganz gut.

 

Was es für mich schwer gemacht hat ist, dass dieser Antrag bedeutet, dass ich schriftlich niederlege, wer an uns zum Täter geworden ist. Und diese werden darüber informiert, dass sie als solche angegeben wurden. Warum?

 

Weil der Staat versucht, das Geld, das er ausgibt für die Opfer, von den Tätern einzufordern. Das ist naheliegend. War für mich aber immer ein Grund diesen Antrag nicht zu stellen. Zu groß war die Angst, dass den Kontakt, den ich bewusst abgebrochen habe, einfach weil es für uns das "Befreien" vor allem für die Therapie zwingend notwendig war und ist, wieder in Teilen aufgehoben wird. Ich wohne an derselben Adresse, ich habe dieselbe alte Telefonnummer. Die Menschen, die ich hier angeben muss, kennen beides. Die Angst, dass Kontakt aufgenommen wird, gegen unseren Wunsch und vor allem mit dem Hintergrund der Ereignisse. Das macht sehr viel Angst! Aktiv, indirekten Täterkontakt herzustellen....

 

Es hat zwei Wochen und viele Gespräche, was machen wir wenn….? gebraucht um den Mut zu finden den Brief zur Post zu geben. Denn, die Täter von damals habe auch heute noch die Macht, uns in ein unselbständiges, abhängiges und folgsames Wesen zu verwandeln. Mit wenigen Worten können sie dafür sorgen, dass wir hingehen und alles wiederrufen. Das wir sagen, wir sind falsch und böse und man hat uns das alles nur eingeredet. Das wir nicht ganz klar im Kopf sind. Sie haben die Macht, uns als völlig unglaubwürdig dastehen zu lassen. Davor müssen wir uns schützen!

 

Ich kann mir vorstellen, dass das für außenstehende nicht vorstellbar ist. Aber das gehört zu Viele-Sein auch dazu. Das Anteile sich der Kontrolle entziehen und auf alte "Programmierung" reagieren. Ich bin mir dieser loyalen Anteile inzwischen bewusst und ich hoffe sehr, dass durch das "Wir-Bewusstsein" und durch alle Seiten, Stimmen bzw. Perspektiven, diese Anteile niemals wieder verleugnen können und werden. Aber das alles ist noch sehr "frisch" und es fühlt sich gelegentlich doch noch recht instabile an.

 

Tatsächlich habe ich dann, nach Arbeitsende und Antrag abschicken erst einmal Urlaub gemacht mit meiner Familie und habe für zehn Tage versucht alles hinter mir zu lassen. Alles für einen Weile zu vergessen. Einfach mal wieder nur das Leben zu genießen. Weiter zu erkennen wie schön das Leben sein kann. Ein erstes Mal mit den Kindern richtig weit wegfliegen und eventuell auch schon ein letztes Mal? Immer ist da auch die Angst vor dem was wir entscheiden haben…. Wie wird unsere Zukunft aussehen? Meine und die meiner Familie?

 

Es hat fast eine Woche gebraucht, bis ich endlich im Genießen angekommen bin. Für Teile von mir ist Urlaub alles andere als Spaß. Die eigenen vier Wände für Tage am Stück zu verlassen, bedeutet auch immer Stress und Angst. Das latente Gefühl, das immer da ist, wenn ich das tue, seigert sich dann deutlich. Nicht alle mögen fliegen. Also schön darauf achten, dass auch der richtige Anteil fliegt. (Darin haben wir inzwischen dank dem Job und den letzten Monaten Übung). In einer fremden Umgebung Orientierung zu finden und einen inneren Rhythmus, ist immer sehr anstrengend. Aber dadurch, dass nun das Bewusstsein für diese Unterschiede zwischen Freude und Angst, Überforderung und Abenteuerlust da ist und Innenkommunikation möglich ist, ging es doch ganz gut und das Genießen kam! Und wir haben ein ganz großartiges Erlebnis gehabt, als "Wir", das gelernt hat zu vertrauen. Davon ein anderes Mal mehr.

 

Zuhause wartete dann Post. Eine Antwort auf meinen Antrag im Rahmen des OEG. Und da bin ich nun. Mitten in genau dem emotionalen Desaster, das ich nicht wollte.

 Zusammengefasst: Ja, ich habe als Opfer von sexuellem Missbrauch ein Recht auf Entschädigung. Die Beweislast liegt bei mir, dem Opfer! (Wow. Das ist schon hart.) Ich muss nun einzelne Gewalttaten glaubhaft schildern die ggf. durch Zeugenaussagen bestätigt werden. Ich kann keine Zeugen nennen! Sie sind gleichzeitig Täter! Oder selbst Opfer und noch nicht an dem Punkt wo ich stehe. Wo sie Aussagen treffen können oder wollen.

 

Es werden Ermittlungen, verglichen mit denen eines Strafverfahrens durchgeführt. D.h. die Täter werden befragt? Zumindest kontaktiert!

 

Die Tatsache, dass ich eine Beeinträchtigung erlitten habe gilt nicht als Beweis, dass Taten auch stattgefunden haben. Alle medizinischen Unterlagen, also auch die meiner Therapeuten, sind als Beweismittel nicht zugelassen.

 Außerdem muss dann noch festgestellt werden ob es eine Kausalität gibt zwischen Taten und Folgen gibt.

 

Das ist schon Ironie, wenn man zwei Jahre lang nicht bereit war zu glauben, was da alles im eigenen Selbst wohnt und zum Teil unkontrolliert wirkt und Therapeuten einem genau diese Zusammenhänge klar machen. Wenn man schließlich begreift, wann zu welchen Zeitpunkten Anteile entstanden sind, weil es (mal wieder) unerträglich wurde. Das immer wieder von Fachleuten genau die Kausalität betont wird. Regelmäßige, wiederkehrende Gewalttaten, in Kombination mit Isolation, sichergestelltem Sprechverbot und dem Gefühl der Auswegslosigkeit der Situation führen zur Spaltung. Und nur dann!

 

Genau das kann nun auch zum Verhängnis werden. Isolation= keine Zeugen. Spaltung und Aufrechterhaltung des Funktionslevels= Keine offensichtlichen Folgen sichtbar. (Teil-)Amnesien durch Spaltung= keine Glaubwürdigkeit. Um so grausamer die Taten, oder gar um rituelle Elemente ergänzt= um so verwirrter und damit unglaubwürdiger die Opfer.

 

Ja, ich kann verstehen, dass es für Außenstehende unglaubwürdig erscheinen muss, dass man sich erst nach Jahrzehnten "erfolgreichen Überlebens" ans Ende der Kraft kommt und mit der Depression, dem Burn Out der Kräfte, schließlich die Spaltung nicht mehr aufrechterhalten werden kann und dann nach und nach alles wiederkommt. Bilder, keine Gesichter, keine Namen, aber grausame Bilder, Emotionen, körperlicher Schmerz und das "Funktionieren" plötzlich wegfällt.

 

Dennoch besteht eine Chance. Glaubhaftmachung nach §15 VFG-KOV (Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung). Wenn man, ohne eigenes Verschulden, nicht mehr hat als sein eigenes Wort und die Glaubhaftigkeit (auch mit einem Restzweifel, aber eben glaubhaft genug) ist, dann kann:…"bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht."

 

Kurzum, es bleibt unsnichts anderes, als detailliert und so glaubwürdig wie möglich, unseren Leidensweg zu dokumentieren und zu Papier zu bringen. Allein das wird sehr viel Zeit und Kraft in Anspruch nehmen und ich bin froh, eine Therapeutin an meiner Seite zu wissen. Ohne Unterstützung ist das unmöglich! Aber die haben wir nun schließlich und endlich!

 

Ach ja! Und dann braucht es noch alle meine Schulzeugnisse. Ich habe keine Ahnung, was aus diesen herauszulesen sein soll. Da es uns schon seit der ersten Klasse als uns gibt, war ein Anteil immer für die Schule und gutes und unauffälliges Benehmen dort zuständig….

 

Ich glaube nicht, dass wir das alles in neun Monaten erledigt habe, geschweige denn es eine Entscheidung geben wird. Das ist ein Teil meiner neuen, unabsehbaren Zukunft. Aber ich werde durch diesen Prozess gehen, und wenn es nur dafür gut ist zu sagen und zu zeigen, wie die die Opfer-Bürokratie in Deutschland ist und um nun endlich auch in die Konfrontation mit den Ereignissen zu gehen und uns endlich aus diesem inneren Labyrinth an Alpträumen, grausamen Bildern, Schmerz und Ohnmacht zu befreien.

 

 

Ela+

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Imogen (Dienstag, 30 Juli 2019 16:55)

    Ich habe heute das erste Mal den ganzen Text gelesen und finde mich in so vielem wieder. Ich bin im April aus der Arbeit raus weil dort zu viele schädliche Aspekte waren,aber ich habe genauso dagegen angekämpft, wollte funktionieren um jeden Preis und so manche Teile mussten sehr darunter leiden. Ich kann aber erst seitdem wirklich intensiv Therapie machen.
    Danke, dass Du mir das Gefühl gibt nicht allein so zu sein.

  • #2

    VieleLeben (Mittwoch, 31 Juli 2019 11:06)

    Liebe Imogen,
    es freut mich, dass Du den Beitrag gelesen hast und dass Du Dich wiederfinden konntest. Wie Du schreibst, war das ein guter Schritt für Dich. Das macht mir Mut, dass es auch für mich so sein wird. Danke dafür!
    Ela+