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Über dreckige Farbkästen

Heute war der letzte Schultag der 1. Klasse meines Sohnes. Ich bin sehr stolz auf ihn. Er hat sich im letzten Jahr in einer für ihn ganz neuen Welt zurechtgefunden. Weitestgehend allein, denn der Kontakt zur Schule ist doch deutlich geringer als noch im Kindergarten, wo man im Türgespräch doch viel mehr mitbekommt. Er brauchte nicht viel Hilfe, er wollte sie auch nicht.

Er hat sich in einer großen Gruppe integriert, ein erstes Mal in einer ganz andere, erwachsenere Welt geschnuppert, in der man sich viel mehr an Regeln halten muss, funktionieren muss und auch Leistung bringen. Er hat sich neue Freunde gesucht, hat sich behauptet, hat eine eigene Stimme entwickelt, die deutlich und präzise in der Wortwahl (steht so im Zeugnis) auch seine Sicht der Dinge verdeutlichen kann und mit der Umwelt in Einklang bringen kann. Und irgendwo zwischen alle dem hat er auch noch lesen, schreiben sowie rechnen gelernt, erste englische Worte. Er hat seine Liebe zur Musik ausgebaut und schöne Bilder gemalt und im Sport mitgemacht.

 

WOW!

 

Wie er da heute auf dem Schulhof umhertobte, in einer für ihn nun offensichtlich gewohnten und bekannten Welt, als ich ihn heute mit all seinen Sachen, die in den Ferien nach Hause müssen, an der Schule eingesammelt habe. Da war er mit Freude und mit unfassbar leuchtenden Augen unterwegs. Ich habe ich mich sehr für ihn gefreut, dass er so "groß" und selbständig geworden ist im letzten Jahr und eine so tolle Entwicklung gemacht hat, sich die Schulwelt erobert hat. Und noch mehr hat es mich gefreut, dass er das auch selbst weiß und diese Sicherheit auch ausstrahlt. Ich die Zweiflerin an mir selbst, an mir als Mutter, dachte da doch dann kurz: Vielleicht habe ich dann doch nicht alles verkehrt gemacht!

 

Wir haben den Tag genossen zu Hause, haben den Ferienbeginn gefeiert mit Kindern im Garten und viel guter Laune. Als schließlich, viel später als üblich, die kleinen Köpfe in die Kissen gefallen sind, habe ich mich aufgemacht seine Sachen zu sortieren und zu säubern und meine Eindrücke vom heutigen Tag noch mal dabei vor dem inneren Auge passieren zu lassen. Auch da war ich stolz. Denn es sind alle Sachen wieder zu Hause angekommen! Ich glaube wir haben im ganzen Schuljahr 2 Radiergummi, 1 Bleistift und einen Spitzer verloren! Mein Sohn ist nicht der sorgfältigste Geselle (steht auch im Zeugnis) aber ich finde, da hat er seine Sache wirklich gut gemacht.

 

Als ich seinen Farbkasten auseinandergebaut habe und angefangen habe ihn zu säubern, war da eine kleine, leise Stimme. Und mit der Stimme kam auf einmal ein ganzer Schwung Tränen.

Ich kann mich gut daran erinnern, wie stolz ich war, als es in die ersten großen Ferien ging. Ich nicht mehr Erstklässlerin, I-Dötzchen war. Ich war euphorisch und aufgekratzt an dem Tag. Ich hatte etwas geschafft und mein erstes Zeugnis war gut ausgefallen.

 

Wie immer war mein Vater freitags mittags schon zu Hause und ich kann mich noch daran erinnern, dass ich die angestrengte Stimmung wahrgenommen haben, die mitschwingt an dem letzten Schultag von zwei Kindern und einem kleinen Kind, das irgendwie mitmachen will bei der Aufgekratztheit der älteren Geschwister. Aber ich habe mich von ihr nicht bekümmern lassen wollen. Ich wollte an dem positiven Festhalten. Ich habe sie versucht zu ignorieren, weg zu toben, weg zu lachen. Vielleicht in der Hoffnung, dass dieser positive Tag auch positiv anstecken kann. Leider habe ich falsch gelegen.

 

Ich weiß noch, dass mein Vater irgendwann wutschnaubend zu mir getreten ist und mich am Arm gepackt hat. Er hat mich sehr unsanft aus meiner Welt gezerrt und ehe ich den plötzlichen Wechsel begreifen konnte, irgendwie realisieren konnte, was gerade geschieht, hagelte es auch schon Schläge. Wie immer in solchen Situationen setzt mein Gehör aus. Ich hörte nicht, was mein Vater wutentbrannt schreit. Ich weiß nur, dass ich versuche irgendwie zurecht zu kommen mit dem was gerade passiere. Die Orientierung nicht zu verlieren. In meinem Kopf nur noch mein eigener Atem, den ich hörte und der mich mit mir verbunden hält. Ja, irgendwo war Schmerz, aber ausgeblendet. Irgendjemand war da draußen und hörte zu und empfing die Schläge und Worte, die da lauteten, undankbar, respektlos, selbstgefälliger Nichtsnutz (du musst nicht glauben, dass Du so toll bist, nur weil Dein Zeugnis recht anständig ist), Versager (Du bist nichts Besseres und schon gar nichts Besseres als ich). Ich versuchte nur irgendwie meiner Verwirrung Herr zu werden, zu verstehen was ich falsch gemacht haben könnte.

 

Ich weiß nicht, ob ich es herausgefunden habe damals. Die Erinnerung ist losgelöst von dem Rest. Heute kann ich diese Szene in Verbindung setzten mit einer lapidaren Bemerkung meiner Mutter. In einem langen, konfrontativen Gespräch, in der ich zum Ausdruck gebracht habe, dass ich bis heute nicht nachvollziehen kann, was solche Situationen auslöste, in denen mein Vater dermaßen die Beherrschung verlor und wahllos zuschlug. Sie hat es damals nicht geleugnet, sondern nur gesagt, ja, manchmal war es nur ein verdreckter Farbkasten.

 

Und hier schließt sich der Kreis, denn jetzt ist klar, warum diese keine, leise Stimme heute aufgetaucht ist. Ich versuche dieses kleine Wesen in mir zu trösten und ihr zu sagen, dass es nicht o.k. war, was da passiert ist und ich versuche ihr etwas von dem heutigen Tag und den tollen und schönen Gefühlen ab zu geben.

 

Und ich sitze ein erstes mal selber hier und weine in einer seltsamen Mischung aus Unverständnis, Trauer über den Verlust, von Stolz und dem Gefühl von Selbstwirksamkeit, der Freude an der Kinderwelt und der tiefen Dankbarkeit, dass meine Kinder in einer doch so anderen Welt aufwachsen dürfen. Mein Sohn ist heute glücklich und zufrieden ins Bett gestiegen und darf das Gefühl haben etwas Großes geschafft zu haben und ich kann es ihm aus ganzem Herzen gönnen!

 

Ela +

 

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